Von der Pflicht zur Kür

SonntagsBlog „Von der Pflicht zur Kür“, 2. Juli 2023

Liebe ZenhoflerInnen,

der Sommer ist nun in seiner Hochzeit angekommen. In ein paar Stunden steht der Vollmond in diesem Jahr zum siebten Mal am Himmel und wir schauen zu wie die Felder und Früchte reifen. Danke für diese Früchte.

Eine Zenhoflerin verwendete jetzt in einem Gespräch das Wort Pflicht und das machte mich nachdenklich. Ist die Meditation Zazen eine Pflichtübung? Ist es eine Pflicht einmal in der Woche zur Meditation zu kommen? Beraube ich mich da meiner persönlichen Freiheit? Ist die Meditation Zazen überhaupt Freiheit?

Was ist Zazen für einen jeden von uns?

Als Philosophin gehört der Pflichtbegriff zu Immanuel Kant, der ihn in Bezug zum Kategorischen Imperativ stellt. Dieser aus dem Verstand von Kant entstandene Satz heißt nichts Anderes, als was du nicht möchtest, das man dir tue, das füge keinem anderen zu und überlege, ob du das, was du da tust, zu einem Gesetz werden könnte?

Es ist ein Gedankenkonstrukt gewesen, das dann zum Pflichtbegriff führte. Kant stellte sich auch die Frage nach den Pflichten und verbindet sie interessanterweise mit einem Zweck: „Welche sind die Zwecke, die zugleich Pflichten sind? Sie sind: Eigene Vollkommenheit – fremde Glückseligkeit.“ (Kant 1968, S. 385)

Da ist es – die eigene Vollkommenheit und Glückseligkeit von Anderen/Fremden. Wenn wir Zazen sitzen, führt diese Pflichtübung zu unserer eigenen Vollkommenheit und zur Glückseligkeit Anderer? Ist es nicht das, was der Buddhismus immer sagt?

Aber da ist noch viel mehr! Jede SportlerIn, egal ob dies eine FußballerIn, ein EiskunstläuferIn oder eine Standardtänzerin oder oder oder ist, sie kennen und wissen um den Effekt der Übung, die eine Pflicht ist, die wir uns auferlegen, weil wir immer besser werden wollen.

Merkwürdigerweise ist dies bei den Sportlern, auch in unserem Beruf oder anderen sichtbaren Dingen selbstverständlich, dass wir uns verpflichten, die Dinge besser zu machen, um schließlich wie im Sport üblich unser Können zu küren. Im Eiskunstlauf heißt es sogar von der Pflicht zur Kür/zur Wahl/zur Auswahl.

Doch offensichtlich fassen wir diese Pflichtübung nicht als Freiheitseinschränkung auf, sondern wir tun dies mit der ganzen Kraft unseres Herzens, weil wir wollen, dass der Chef mit uns zufrieden ist, dass der Trainer uns lobend in die nächste Klasse hebt, dass die Familie unsere Taten lobend erwähnt.

All dies ist für uns nicht freiheitseinschränkend und wegbehindernd.

Ist die Meditation als Pflicht wirklich freiheitseinschränkend und wegbehindernd oder tut sie genau das Gegenteil? Ist sie nicht die Wahl, die Auswahl, die uns selbst in den Vordergrund hebt, damit wir das Beste von uns auswählen, auch für alle? Ist nicht gerade die Meditation der Ort, wo uns niemand etwas vorschreibt, niemand uns sagt, wie wir zu sein haben niemand uns zur Kür verpflichtet außer wir uns selbst in dem Maße, wie es gerade das uns Eigenste ist? Ist dies nicht der Weg, der uns am meisten zu uns selbst führt, so dass wir diesem dann folgen können?

Unser Körper entsorgt tagtäglich Urin und Stuhl. Er entleert sich des Ballasts, des Mülls, unseres eigenen in uns erzeugten Abfalls. Tun wir dies nicht, werden wir krank. Unser Haushaltsmüll, der jede Woche neu entsteht, wird von uns entsorgt, weil wir sonst im Unrat und möglichem Ungeziefer versinken.

Warum sehen wir nicht, dass dies für den Geist genauso notwendig ist? Auch er möchte sich von seinem Müll befreien, stattdessen packen wir immer wieder Neuen dazu. Warum meinen wir, wenn wir unseren Geist vom Müll befreien wollen, bedarf dies keiner Übung, keiner Pflicht/Aufgabe, die zu einer Kür werden kann und somit wie Kant sagt, zur eigenen Vollkommenheit und Glückseligkeit anderer führt?

Ist eine Gemeinschaft, deren Inhalt darin besteht, den Geist zu klären, den eigenen Müll des Geistes/Gedanken zu entleeren, ist diese nicht das Wertvollste, was wir in unserer aller Leben tun können?

Was ist für uns überhaupt noch Gemeinschaft?

Sommerfest und Biodanza 2022

Dient sie nur der eigenen Bedürfnisbefriedigung? Wollen wir nur noch von ihr absahnen? Oder wollen wir etwas tun für eine Gemeinschaft? Etwas gemeinsam schaffen, erschaffen? Die erste Gemeinschaft, die wir kennen, ist unsere Familie. Dann kommen die Freunde. Doch, wer hat heute noch wirklich Freunde? Wirklich echte Freunde, die mithelfen, den Müll zu entsorgen, statt ihn wachsen zu lassen?

Und ist die allerengste Gemeinschaft, die wir kennen, ist das nicht unser eigener Körper und Geist? Ein Wunderwerk einer Gemeinschaft von Organen, Zellen und Atomen?

Ein Wunderwerk!

Das Wort Ge-mein-schaft enthält das kleinen Wörtchen –mein- und das wiederum enthält das kleine Wörtchen –ein-. Dieses –ein- schafft etwas. Es ist wird zu meinem und schließlich entsteht durch das Meine eine Gemeinschaft wie das Bild oben von der an einer Reckstange hängenden Ellen deutlich zeigt.

Ist das bei der Gemeinschaft der Zazen-Praktizierenden im Zenhof nicht auch so? Zeigt uns nicht dieses Eine in uns allen unser eigenstes Mein, das uns schließlich zusammenführt und das Gemeinsame entsteht?

Wie ein ge-m-ein-sames Essen in einer bestimmten Form?

Von der Pflichtübung zur Kür des Eigensten, ist das nicht ein guter Weg? Ist dies nicht ein Weg, den es sich lohnt zu gehen? Wie Kant in seiner Metaphysik der Sitten, seiner Erklärung von Moral, Ethik und Religion sagt: Eigene Vollkommenheit und Glückseligkeit Anderer.

Ist dies nicht eine Pflicht, die wir gerne gehen, um in der Krönung einer Kür Gemeinschaft, Zuneigung, Freude, Vertrauen zu uns selbst und zu den Anderen in größt möglichster Freiheit zu erfahren?

Danke für dieses Wort der Pflicht, das mir in diesem Gespräch begegnete. Deutlich wurde mir in diesem kleinen Gespräch auch, wie wichtig es ist, mehr in den gemeinschaftlichen Austausch zu kommen.

Schade ist, dass von diesem gemeinschaftlichen Austausch, der ja in Form von Zen und Theorie oder in Zen-Intensiv oder im Sommerfest oder den anderen Veranstaltungen des Vereins einen Ausdruck findet, so wenig genutzt wird. Mehr als anbieten kann ich es nicht. Wenn ihr Gesprächsbedarf habt, egal, worum es geht, ihr wisst, hier sitzt eine Frau, die der Weisheit begegnete und die dazu noch ziemlich klug ist durch das, was sie alles lernte und immer noch lernt. Auch durch Euch und mit Euch. Danke. Und ich hoffe innig, dass es Euch genauso geht?

Wie heißt es im Film „peaceful warrier“ so schön: Bring du den Müll selber raus. Und der Zen-Meister antwortet darauf, dass es nicht um den Müll geht, sondern um den Müll, den ein jeder von uns in Gedankenkonstrukten ansammelt. Ein Müll, der um so mehr wächst, je mehr Anforderungen unseres Alltags auf uns einströmen. Doch entleeren wir immer wieder unseren Geist, dies zeigt der Film wiederum sehr deutlich, so sind wir bei unserem ureigensten Tun und Sein angekommen.

Klarstes um Körper und Geist. Hier sind es Hand und Fuß.

Die Zazen-Praxis hält den Geist gesund wie der Abgang von Urin und Stuhl unseren Körper gesund hält. Was spricht dagegen daraus eine Pflicht zu machen, wenn eine Kür als Lohn auf uns schon lange wartet?

Ich übe diese Pflicht seit mehr als 15 Jahren und ich bereue nicht eine einzige Minute, denn mein Weg entstand langsam nach und nach dabei. Und mit viel innerer Freude teile ich das mit Euch allen. Die Glückseligkeit der Anderen.

Ich danke einem jedem von Euch für seine Praxis, denn auch der kleinste Schritt ist ein Schritt zur eigenen vollkommenen Kür. Shunryu sagt: Dafür lohnt es sich.

Alles Liebe und Gute Euch

Ellen

Literaturverzeichnis

Kant, Immanuel (1968): Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten. Berlin: De Gruyter & Co (Kants Werke Akademie Textausgabe, / Immanuel Kant ; Bd. 6).

5 Kommentare

  1. Liebe Ellen,

    das hast du ganz wunderbar zusammengefasst und auf den Punkt gebracht. Offensichtlich hast du damit einen Nerv getroffen. Wunderbar!
    Merkwürdig, wie sich die Welt entwickelt. Noch zu Corona-Zeiten schrie ein Großteil der Menschen regelrecht nach Reglementierung und Bevormundung. Alle, die nicht mitzogen wurden diffamiert und geächtet. Wo war da die Freiheit?
    Interessant, dass das Üben des Zazen als Pflicht angesehen wird. Es gab mal eine Zeit, da wurde ein regelmäßiges, kontinuierliches Üben als Disziplin betrachtet. Disziplin war etwas sehr Edles und Menschen, die sich einer Disziplin unterwarfen, waren hoch angesehen und wurden bewundert. Da fällt mir gerade das Wort „unterwarfen“ auf. Eine Unterwerfung ist die Hingabe an etwas Größeres. Das hat mit Demut zu tun. Ich nehme mich zurück und stelle das Höhere in den Vordergrund. Das Höhere ist in diesem Fall die absolute Hingabe an die Praxis des Zazen.
    Ich setze mich auf dieses Kissen, auf diese Matte und gebe mich ab. Menschen, die regelmäßig üben, diszipliniert, mit Hingabe, sind stets von mystischer Gnade begleitet. Immer. Diese offenbart sich dem Übenden immer wieder einmal, damit er nicht aufgibt. Damit er die Größe und Präsenz „Gottes“ in seinem eigenen Kleinsein erfährt. Das ist wie beim Sport. Ein Trainer wird diejenigen fördern, die regelmäßig ihr Bestes geben.
    Dieses Kissen, diese Matte ist mehr als nur ein Übungsfeld. Sie sind dein Zuhause. Genau an diesem Ort darfst du sein, wie du bist. Mit all deinen Schwächen, deinen Fehlern, deinen Schmerzen und deinem Glück.
    Merkwürdigerweise fühlt sich heute kein Mensch unter Zwang, wenn er permanent in sein Smartphone starrt. Dabei ist das der größte Zwang, den es zur Zeit gibt. Ständig sind viele Menschen gezwungen, immer wieder auf dieses Display zu schauen.
    Bin ich noch dabei? Werde ich kontaktiert? Nehmen meine Follower zu oder stagniert deren Zahl, oder noch schlimmer, nehmen sie ab?
    Bereitwillig unterwerfen sich viele Menschen dieser virtuellen Welt, die keinen Frieden bringt, die kein Zuhause ist. Es ist ein Schwimmen mit dem Strom. Alle tun es, da muss ich dabei sein. Angst vor Isolation und letztlich vor dem Sterben.

    Lasst uns in Ruhe auf diese Matte setzen. Zählen wir unsere Atemzüge, beobachten wir unseren Geist. Aus einer großen Freiheit heraus. Wenn wir uns intensiv mit dem Sitzen identifizieren, entsteht die Sehnsucht nach mehr. Die Sehnsucht nach dem Kontakt mit dem Höchsten, der sich in uns manifestiert.

    Ich wünsch uns allen ein gutes Gelingen.

    Gassho
    Manfred

  2. Vielen Dank für diesen inspirierenden Blog. Was du geschrieben hast, hat mich sehr berührt, weil ich lange Meditation aus einem
    Gefühl von Zwang gemacht habe. Inzwischen kann ich es aber immer mehr
    aus Freiheit und Selbstliebe praktizieren. Der Blog hat mir nochmal die
    Frage mitgegeben, aus welcher Intention ich täglich meditiere. Ob ich
    es mache, weil ich gerade glaube ich muss oder weil ich darf und
    möchte.

  3. Hallo Ihr Lieben,
    beim Lesen Eurer Zeilen ist mir eine Redewendung in den Sinn gekommen, die ich in den Jahren meiner Lehrzeit zur Korbmacherin oft gehört habe: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“. Auch bei meinen Kindern habe ich ihn oft verwendet, wenn Ihnen in etwas nicht gelingen wollte. Nur gibt es einen Unterschied von üblichen Übungen, bei denen am ihn zitiert, zum Meditieren. Niemand gibt einem am Schluss eine 1, man hat keine Prüfung geschafft, es steht kein schönes Objekt vor einem, man erhält keinen Preis. Doch findet man die Belohnung in sich selbst, im Finden von sich selbst und seinem ganz eigenen Weg. Und das ist doch das größte Geschenk, das man erhalten kann.

    1. Herzlichen Dank für diese wunderbaren Rückmeldungen. Letzte Woche in Zen und Theorie wurde Zazen von Zenhoflerinnen beschrieben mit:
      „Ein Weg im Jetzt zu mir.“
      „Tue es für mich und gleichzeitig für Andere.“
      „Selbst-liebe – denke an mich.“
      „Das Gegenteil von Pflicht – ich kann alles sein lassen wie es ist. Ein Freiraum.“
      „Am Anfang war es eine Möglichkeit Kraft zu schöpfen. Es ist Veränderung.“
      „Es ist ein Ruhe-Pol-Stille. Ruhig. Abschalten.“
      „Eine Oase“
      „Pflichtbegriff gab es nicht. Ich habe einfach gesessen.“
      Ja, es ist ein Finden von sich selbst.
      Es sind die eigenen Vokabeln von Körper und vom Geist und schließlich von der Seele, die wir zuerst entdecken, dann erforschen, dann kennen lernen und dies erweitert sich beständig wie beim Lernen einer Fremdsprache. Diese Fremdsprache heißt: Ich lerne/übe/erfahre das Selbst in seiner Authentizität.
      Die Zazen-Praxis räumt für jeden von uns einen ganz eigenen Weg als unbegrenzter Freiraum ein.
      Dieser kann nach meiner persönlichen Erfahrung größer nicht sein.
      Uns allen ein gutes Erfahren dieses Eigenen, gepaart mit der Freude, dass kein Hindernis, keine Angst, keine Vorstellungen der Chef über uns ist, sondern wir selbst ganz authentisch.
      Und was ein Selbst ist, was Authentizität ist, was Freude ist, was das Eigene ist, was Angst ist, usw. ist erfahrbar mit einem wirklichen AHA.
      Das wünsche ich uns allen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Google