Sonntags-Blog „Vergessen“, 23. Januar 2022
Liebe ZenhoflerInnen,
einen kurzen Gruß aus dem verschneiten Thüringer Wald. Nach einem wunderschönen Spaziergang im Schnee kehre ich zurück und teile heute einfach ein paar Worte, die ich heute Morgen im Buch von Shunryu Suzuki Roshi, Anfänger-Geist las.
„Und wir sollten vergessen, Tag für Tag, was wir getan haben; das ist wahres Nicht-Anhaften. Und wir sollten etwas Neues beginnen. Um etwas Neues zu tun, müssen wir natürlich unsere Vergangenheit kennen, und das ist recht so. Aber wir sollten nicht an irgendetwas, das wir getan haben, festhalten: wir sollten nur darüber nachdenken. Und wir sollten auch gewisse Vorstellung davon haben, was wir in Zukunft zu tun haben. Doch Zukunft ist Zukunft, und Vergangenheit ist Vergangenheit; jetzt sollten wir an etwas Neues arbeiten.“
Wenn wir Zazen sitzen, produzieren wir sichtbar permanent Neues. Jeder Atemzug wird neu geboren. Der Alte stirbt. Er ist vergessen. Wir haften nicht an ihm an. Wir weinen nicht hinterher. Er ist Vergangenheit. Wir können über ihn noch einmal nachdenken. Wir können ihn als tief, als still, als aufgeregt, als verletzlich und und und in Erinnerung haben. Doch er ist ein für alle Male fort. Er bildet unsere Vergangenheit mit, unsere Zukunft und unsere Gegenwart. Doch unsere Kon-Zen-tration liegt auf dem jetzt Neu-Erscheinendem. Wir betrachten genau, was es mit uns macht. Ein Körpergefühl. Ein geistiger Gedanke. Eine Emotion. Alles kann sein. Nichts ist verboten. Doch, in dem Augenblick, in dem wir es bemerken, ist es schon vorübergezogen. Vorbei.
Als ich heute so durch den Wald ging, dachte ich, dass alles, was einen Ausdruck bekommen hat, nicht nur einfach noch ist, sondern auch irgendwie weg ist. Ich kann es, glaube ich nicht richtig ausdrücken, aber das, was wir ins Erscheinen gebracht haben, das Neue, das wir gestalten; es erscheint und ist dann irgendwie nichts mehr. Die Tasse wird benutzt, aber sie ist irgendwie leer geworden, seit ihrer Entstehung. In dem Augenblick als sie ganz neu war, erschien sie so neu, so unverbraucht, so voll, so einfach offen und dann vergeht sie in diesem Tagtäglichen. Sie geht in das große Feld des Nichts, das gleichzeitig Alles ist. Eigentlich verschwindet sie wie der Atemzug.
Ich möchte einfach sagen, dass die Stille, die ruhige Anwesenheit immer hier ist. Wenn wir sie sehen lernen, so wie es im Kan-ze-on = den Klang der Welt sehen, heißt, dann spüren wir, dass diese einfache ruhige Gelassenheit immer hier bei uns ist, ganz egal, was in der Welt tobt.
Mit dieser ruhigen Stille an unserer Seite tun wir das, was Shunryu sagt: Wir tun Neues. Augenblick für Augenblick. Wir öffnen unsere Augen und sehen neu und tun Neues. Ganz einfach so. Wenn wir eine menschliche soziale kommunikative friedliche Welt wollen, dann tun wir etwas dafür. Von einer Meditation in Stille bis zum Streicheln der Hand eines alten Menschen bis hin zu einem Spaziergang für die Freiheit.
Wir warten nicht auf andere, die uns unsere Welt vorschreiben und somit aus der Hand nehmen und unsere Welt gestalten, wie sie es wollen. Digital, abstandhaltende Sozialisierung, Zoom-Kommunikation, Internet-Doktor und Internet-Käufe. Wenn wir MitgestalterInnen sein wollen, bedeutet es Neues zu tun. Neu bedeutet, unbekanntes Land betreten. Wenn wir uns verbeugen und wieder hochkommen – unbekanntes Land. Wenn der nächste Atemzug kommt – unbekanntes Land. Wovor sollten wir uns also fürchten? Unbekanntes Land – jeder Moment, den wir leben. Keinen davon kennen wir. Nichts ist uns so unbekannt wie der nächste Augenblick.
Halten wir unseren Geist so frei wie wir nur können, begegnen wir immer wieder diesem völlig Neuem. Manfred erzählte heute von dem Berührt-Sein beim Spaziergang. Der Wassertropfen am Ast. Der Vogel auf dem Ast. Der Baum. Dieses Berührt-Sein ist Sehen des Neuen. Es ist das unbekannte Land betreten, staunen und weiterreichen im Vergessen, so dass der oder die, die nachkommen, vielleicht auch das unbekannte Land erforschen lernen können und auch wollen.
So freue ich mich, mit Euch allen immer wieder neu unbekanntes Land zu entdecken, zu erforschen und lebendig werden zu lassen, wenigstens diesen einen Augenblick ganz voll, ganz offen, ganz „vergessen“ in sich selbst. Das ist Er-Lös-ung.
Herzliches Gassho
Ellen
Ein tiefes DANKE für die immer so reinen Worte für das Leben!
Eine immer währende Inspiration.
In Gassho
Marco