Der Ort, der alles kennt

Sonntags-Blog „Der Ort, der alles kennt“, 6. März 2022

Liebe ZenhoflerInnen,

Es ist tatsächlich bereits März. Krokusse, Schneeglöckchen und Winterlinge strecken den Sonnenstrahlen ihre Blüten entgegen, auch wenn der Wind des Winters uns noch nicht loslässt. Auch in unserem Alltag lässt uns der Winterwind noch nicht ruhen. Die Herzen der Menschen stehen im Sturm.

Bei uns durch geteilte Ansichten über eine Impfpflicht, die die Freiheit von Bürgern einschränkt, in der Ukraine durch kriegerische Übergriffe, in Afghanistan eine Taliban-Regierung, die zu Hunger und Menschenrechtsverletzungen führt, in Belarus eine Diktatur, die gerade der weiblichen Bevölkerung schlimmste Menschenrechtverletzungen zufügt, innerstaatliche Konflikte mit Gewalt und Waffen in afrikanischen Ländern wie dem Sudan und Kongo, die Zunahme der Armut mit verhungernden Menschen und Flüchtlinge weltweit.

Mitten in diesem so überaus Großem scheinen wir mit unserem menschlichen Problem vor Ort eine klitzekleine Welt, über die es sich nicht lohnt zu sprechen. Doch gerade auf diese Weise beginnt „mangel-haftes“ Denken. Mangel, weil wir vergessen den wichtigsten Ort unseres menschlichen Seins und Lebens. Dieser Ort ist der Ort eines jeden einzelnen Menschen mit seinem Körper, Geist und seiner Seele.

Es schießt nicht irgendetwas. Es schießt ein Mensch. Es hungert nicht irgendetwas, sondern ein wirklich echter Mensch mit Körper, Geist und Seele. Es ringt nicht irgendjemand um die Impfpflicht. Es ringt ein Mensch mit sich und seinem Leben.

Porträt Tatsudo Nicole Baden Roshi Zen
Tatsudo Nicole Baden


Tatsudo Nicole Baden, Zen-Lehrerin im Johanneshof schreibt in einem Beitrag zum Krieg in der Ukraine und zu den Krisen unserer Zeit mit der Überschrift „Wer wir einmal geworden sein werden“: „Dies ist nicht die Zeit, kommentierend zu beobachten. Es wird Gelegenheiten geben, etwas beizutragen. Ob durch die Beteiligung an Demonstrationen, ob durch Briefe, ob durch die Aufnahme von Flüchtlingen oder durch Spenden oder ob durch ein richtiges Wort zur rechten Zeit: Sorge dafür, dass Deine Stimme zählt. Wir dürfen uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Czesław Miłosz, der polnische Dichter, sagt: „Das Kind, das uns innewohnt vertraut zutiefst darauf, dass irgendwo da draußen Menschen sind, die die Wahrheit kennen.“ Ich kenne dieses Gefühl. Doch im Buddhismus sagen wir, ‚die Wahrheit‘ gibt es nicht. Es gibt Mitgefühl und Weisheit. Und diese Menschen, die wir uns da draußen wünschen, die müssen jetzt wir selber sein.“

Diese Sätze haben mich heute tief berührt. Sie sind so wirklich echt, wie ich jetzt hier auf dem Stuhl sitze und meine Finger diese Zeilen schreiben. Jeder einzelne Ort als der Ort des eigenen Menschen ist so wichtig, so wirklich, so gestaltend, so machend, dass es unglaublich scheint, dass unser jegliches kleine Tun so wichtig wäre. Aber es ist es!

Unser einziger Ort, der uns kreiert und erschafft, ist und bleibt, seit der Geburt unseres eigenen Seins bis zu unserem Tod, genau dieser Ort, dieser Körper, dieser Geist, diese Seele. Nur diese können wir kennen lernen, ihnen zuschauen, wie sie sich entwickeln können. Wir können zuschauen, wann wir Menschen „miss-handeln“ durch Worte, Taten, Bemerkungen, Ablehnungen, Meinungen und Erwartungshaltungen. Hier dieser Ort ist der Ort, an dem wir gestalten können. Nicht nur uns, sondern gleichzeitig die Orte dort, die so fern scheinen.

Ein Ort. Ein Weg. Jetzt. Hier.

Hier bei jedem von uns beginnt die Schlichtung des Krieges. Es kann keine Impfgegner geben, sondern nur Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, diesen Weg nicht für gut halten. Sie treten dafür ein. So wie die Impfbefürworter. Sie treten mit ihrem eigenen Ort, mit ihrer Körper-Geist-Seele-Gestalt in ihrer klarsten An-sicht, der sie jetzt verfügbar sind in diese Welt. Sie weisen auf die Perspektiven von Welt hin, so wie es jede Meinung tut.

Daran ist nichts Schlechtes. Doch geht eine Regierung mit undemokratischen Mitteln vor, so ist jeder Ort, jeder einzelne Mensch mit seiner ganzen körperlich-geistigen und seelischen Gestalt aufgefordert im Angesicht bereits weltbekannten diktatorischen Handelns dieses Handeln zu hinterfragen.

Der Ort des Hinterfragens ist wiederum genau dieser einzelne körperlich-geistig-seelische Halt, der wir jeder sind. Ein jeder von uns kann in der Meditation diesen Ort des Hinterfragens selber in sich, an sich, mit sich, durch sich entdecken. Wenn ein jeder von uns selber weiß, wann er mit sich selbst im Krieg liegt, wann er mit sich selbst im Frieden liegt, dann kann dieser Mensch losgehen und dies lebendig werden lassen. In welche Richtung der Mensch als Einzelner geht, entscheidet er mit dem ersten Schritt.

Zazen, auch wenn es stürmt und schneit, der Wind weht und Kälte über uns hinweg zieht.

Dieser erste Schritt des Tuns, des Handelns kann Früchte tragen oder zu Verwüstungen führen. Ein jeder entscheidet Augenblick für Augenblick diesen ersten Schritt. Er kann in die friedliche lebendige menschliche Gestalt gehen. Er kann auch in die ausnutzende, ausbeutende, unmenschliche, gewaltvolle, engstirnige, einseitige Gestalt gehen.

Jeder Mensch ist ein Ort. Er kann ein Ort des Friedens sein. Er kann ein Ort der Gewalt sein. Beides ist im Menschen vor-hand-en. Beides ringt miteinander in uns. Sind wir der „Boss“ wie Shunryu Suzuki sagt, dann sind wir ein Ort des Friedens, auch wenn wir ganz selten „den Tempel leer räumen“ wie Jesus im Zustand des „heiligen Zorns“.

Zazen ist eine Methode, diesen unseren eigenen Ort immer besser kennen zu lernen, so dass wir nicht von „Orts-Teilen be-bosst“ werden, die uns in den Un-Frieden führen. Zazen ist eine Methode, diesen Ort, der wir selbst ganz und gar sind, in allen Facetten zu erfahren. Kennen wir unseren eigenen Krieg, erfahren wir in und an uns selbst sein Tun, so wissen wir, was zu tun ist, ohne nur einen Moment zu zögern.

Ohne Zögern überall!

Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass im Untergang von Imperien, eines niemals unterging, die menschliche Achtung und Würde einer liebevollen Zuneigung zu jedem Geschöpf dieses Universums. Sie zeigt sich in einem liebevollem Mit-ein-ander-sein, dass immer seinen Weg im tiefsten Dickicht sieht, wenn wir als ein jedes Wesen mit unserem ganzen Körper-Geist-Seele-Wesen es hindurchtragen und es uns trägt.

Treffen wir bei diesem Tun der Meditation, beim Gehen durch das Dickicht auf den Ort, der alles umgreift, erfahren wir, was wirklicher Friede ist.

Diesen wünsche ich uns allen von ganzem Herzen.

Ein tiefes berührtes Gassho heute

von Ellen

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website ist durch reCAPTCHA geschützt und es gelten die Datenschutzbestimmungen und Nutzungsbedingungen von Google