Das Neue

Sonntags-Blog „Das Neue“, 8. Januar 2023

Liebe ZenhoflerInnen,

uns allen ein frohes und wohlgesonnenes Jahr 2023. Das Neue hat bereits nach Kalender begonnen. Die Geschichte des Kalenders ist lang. Die Geschichte der Menschen, die sich nach den Jahreszeiten richtete, ist noch länger. Die Geschichte des ganzen Universums ist noch länger und noch älter.

Was ist das Neue? Das neue Jahr? Wann beginnt es? Wann wird aus dem Neuen ein Altes? Wann wird aus Altes Neues?

Denn Neues entsteht nun einmal aus Altem, denn woher soll es kommen, wenn nicht „von vor langer Zeit“? Wann wird Altes neu? Wann wird Neues alt?

Ist alt und neu überhaupt eine sinnvolle Beschreibung? Erleben wir nicht einfach nur einen Übergang? Den Übergang von einer Nacht in einen Tag, der nun mit einer neuen Zahl belegt wird. Der Übergang von einem Tag auf den nächsten Tag, der eine neue Jahreszahl bekommt, weil irgendwann die Menschen beschlossen, ihr Jahr nach Tagen im Rhythmus der Jahreszeiten einzuteilen? Wie erleben Menschen dies, die gar keine Jahreszeiten kennen? Wo beginnt das Zählen und wann endet es?

In einem Menschenleben beginnt das Zählen heute bereits mit der Schwangerschaft. Es ist die so und so-vielte-Woche. Die Schwangerschaft wird ausgezählt. An dem Tag x wird die Geburt berechnet. Wenn das Kind auf die Welt kommt, wird es vermessen. Der Geburt-stag festgehalten. Jetzt beginnt die Zeit des Lebens zu laufen für dieses Wesen. Es endet mit dem Sterben und auch dieser Tag wird festgehalten. Die Bürokratie braucht die Zahlen. Ohne Zahlen hätte sie keine Arbeit. Was machen wir hier?

Abmessen. Abzählen. Auszählen. Berechnen.

Urvölker gaben den Tag einer Geburt an, indem sie schauten, was das Besondere, das Neue war, das an diesem Tag sich zeigte. So wurde ein Kind „Sonnenuntergang“ oder „Sternenhimmel“ genannt. Später im Pubertätsalter nach einer Initiation bekamen diese Kinder, die nun auf dem Weg zum Er-wach-senen waren, einen neuen Namen. Hier existierten keine Zahlen und keine Bürokratie. Was konnten diese Menschen noch sehen, was wir heute nicht mehr sehen?

Sonnenuntergang in Ligurien

Ist es nicht das Neue, das Besondere? Was ist das Neue? Ist es nicht etwas, das uns unbekannt ist? Etwas, was wir nicht kennen, denn sonst wäre es ja nichts Neues? Wie können wir Neues erkennen?

In der Entwicklung von Kindern sehen wir in den ersten drei Lebensjahren in einer rasanten Geschwindigkeit das Neue im Erleben des Kindes. Es saugte gerade noch an der Mutterbrust und nun isst es ein Butterbrot. Gerade noch trugen wir es und nun läuft es selbst. Gerade noch schrie es einfach und jetzt spricht es Worte aus. Doch plötzlich sehen wir die winzig kleinen Neuigkeiten nicht mehr. Wir übersehen sie. Gerade hat das Kind ein neues Wort gebraucht. Fällt es uns auf? Gerade hat es in einem Buch gelesen, ohne dass es darum gebeten werden musste. Sehen wir es? Gerade hat es selbst einen Termin mit einer Freundin gemacht. Bemerken wir es?

Diese klitzekleinen Neuerungen, die Wechsel von alt zu neu, von neu zu alt, die winzig kleinen Veränderungen, die das Alte zu Neuem machen und das Neue zu Altem.

Heute ist dieser kleine Bursche 14 Jahre alt. Und ich 14 Jahre älter und Neuer!

In unserer Meditationspraxis Zazen ist dies eines der großen Wunder. Moment für Moment können wir zuschauen wie aus Altem Neues wird und wie aus Neuem Altes wird.

Einatmen – wo kommt er her – ist er nicht das Frische, das Neue, das wir in unsere Körper und Geist-Struktur hineinnehmen? Ausatmen- wo kommt er her – ist er nicht das verbrauchte Alte, das wir aus unserem Körper und Geist hinauslassen?

Und mitten in diesem Einatmen und Ausatmen, dem Neuem und dem Alten steht der Augenblick des umfassenden Neuen, das, was wir noch niemals gesehen haben – ein einziger Gedanke – eine winzig kleine Körperbewegung – ein Leitwort – ein Leitsatz, in den Tiefen geboren und im Moment seines neuen Daseins schon erloschen. Der Gedanke ist fort. Der Nächste steht auf. Die Körperbewegung ist beendet, erloschen. Die Nächste steht auf. Das Leitwort taucht auf, erhebt sich hier und dort und zeigt uns Augenblick für Augenblick sein neues Hervorkommen und sein altes Untergehen.

Oryoki ist ein Meister in Neuem und Altem!

Würden wir unser Leben nicht auf einer zeitlichen Skala anordnen, sondern kreis-und punktförmig, so könnten wir sehen, dass auch unser Leben und Sterben ein Leitwort ist. Es erscheint, taucht unter, erscheint, taucht unter….

Auch hierbei kann die Zazen-Praxis helfen – das eigene Leitwort des Lebens und Sterbens zu entdecken. Etwas, das jeden Augenblick neu auftaucht und alt entschwindet, neu auftaucht und alt entschwindet. Eben so wie wir selbst.

Ich wünsche uns allen für das neue Jahr 2023 das Entdecken des eigensten eigenen Leit-Wortes, denn es kann uns helfen in jeder Lebenslage das Neue und das Alte zu sehen. Das ist nicht nur tröstlich, sondern verspricht die Freude des Lebens zu entdecken.

Ein Gassho

verbunden mit einem großen Dank an Euch alle.

Ellen Daoren (Die, die den Weg geht.)

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