Unerschütterlich

Sonntags-Blog „Unerschütterlich“, 13. November 2022

Liebe ZenhoflerInnen,

Einen lieben Sonntagsgruß aus dem Emsland. Schreibzeit. Verwandtenzeit, denn mein Vater war ein richtiger Emsländer und meine Patentante, sozusagen die Letzte der Generation meines Vaters besuche ich hier.

Ems

Beim Spazieren an der Ems kam mir meditierend das Wort „unerschütterlich“ in den Sinn. Und kurz darauf erhielt das Wort Input.

Kegonsūtra – Unerschütterlich Nummer Eins

Im Kegonsūtra oder Blumengirlandensūtra reist der Knabe „Reichhaltiger“, der auf der Suche nach dem Tun und dem Fortschreiten eines Bodhisattva ist, von Burg zu Burg. Ein Bodhisattva ist ein Wesen, das sich dem Leiden der Lebewesen stellt und sein Möglichstes tut, um es zum Erlöschen zu bringen. Auf diesem Weg betritt er auf Empfehlung eines großen Meisters die Burg „Wohnen des Beruhens“, in der eine weltliche Schülerin des Buddhas lebt mit dem Namen „Unerschütterlich“. Da war das Wort. Das Kegonsūtra soll schon um 420 aus dem Sanskrit ins Chinesische übersetzt worden sein. Prof. Torakazu Doi übersetzte in 10 Jahren unerschütterlicher Arbeit, das Sūtra aus dem Japanischen ins Deutsche. Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, dass ich es lesen darf.

Die weltliche Schülerin „Unerschütterlich“ kann uns ein Vorbild sein. Worin?

Anna – Unerschütterlich Nummer Zwei

Das zeigt uns Anna, deren Leben in unserer Neuzeit stattfindet. Sie erfährt im Sommer an einem „normalen“ Wochentag, dass sich ihr Mann von dem höchsten Gebäude in der Umgebung gestürzt habe und tot sei. Von diesem Moment an, beginnt für Anna, Mutter zweier Kinder, Psychotherapeutin, eine Abwärtsspirale ihres Lebens. Unerschütterlich geht sie den Weg nach unten, ganz nach unten. Sie wacht neun Monate nach dem Tod ihres Mannes gelähmt auf. Ihr Mann hinterließ Schulden. Wie soll sie sie bezahlen? Zwei Jahre nach dem Tod wird eine ausgeprägte Depression diagnostiziert. In ihrem Mund bilden sich Geschwüre. 2010 schloss die Spirale sich mit Speiseröhrenkrebs. Mitten in diesem ganzen Geschehen findet sie sich eines Tages inzwischen drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes auf dem Fußboden ihres Wohnzimmers wieder und beschließt betend ein für alle Male, dass sie so nicht länger leben will. Sie betet aus vollem Herzen um Hilfe für einen machbaren und gehbaren Weg.

Daraufhin setzte sie unerschütterlich alle Medikamente ab und beschloss mit der gleichen unerschütterlichen Konsequenz wie es abwärtsging, nun bergauf einen neuen Weg ins Leben zu gehen. So lernte sie auch Joe Dispenza kennen, der ihre Geschichte in seinem Buch „Werde übernatürlich“veröffentlicht. Unerschütterlich erträgt sie Rückfälle, Schmerzen und beginnt mit der Meditation.

Unerschütterlich Nummer Drei

Unerschütterlich ist auch Harold Fry unterwegs. Er ist eine Romanfigur von Rachel Joyce. Harald ist Rentner und weiß seitdem nicht so recht, was sein Leben eigentlich ist. Seine Frau putzt den ganzen Tag. Sein Sohn wohnt schon lange nicht mehr zuhause und es gibt so gut wie keinen Kontakt. Da erhält er eines Tages einen Brief von einer Frau, die in der Firma, in der er gearbeitet hatte, ein paar Jahre die Buchhaltung gemacht hatte.

Sie schreibt ihm, dass sie im Hospiz sei, Krebs habe und sterben würde. Harold liest die Zeilen. Er will ihr einen Brief schreiben, aber es gelingt nicht. Schließlich steht eine Zeile in dem Brief. Ich komme. Warten sie. Er geht zum Briefkasten, aber er geht vorbei. Er geht zum nächsten Briefkasten, aber er geht vorbei. Und plötzlich ist er unterwegs. Mit Segelschuhen an den Füßen, einem Hemd, einer Jacke und einer Hose. Er geht nicht mehr nach Hause, sondern er beginnt in Richtung Hospiz zu laufen, dass fast 900 km weit weg ist. Das Buch beschreibt wie unerschütterlich er seine Reise fortsetzt trotz mit Blasen übersäten wunden Füßen, trotz Rückenschmerzen, trotz Hunger und Durst, trotz des Nichtwissens, ob er es je schaffen wird 900 km zu Fuß zu gehen, um Queene, so heißt die Buchhalterin, noch rechtzeitig zum Leben zu ermutigen.

Unerschütterlich. Dreimal Unerschütterlich.

Wenn wir Zazen üben, sitzen wir bewegungslos unseren Atem zählend wie ein dummer Esel auf einem Bänkchen oder Kissen. Wir beobachten Atemzug um Atemzug, Gedanke um Gedanke, Schmerz um Schmerz. Unerschütterlich sitzen wir, obwohl wir in unserem alltäglichen Leben oftmals der Erschütterung folgen. Der Todesfall in der Familie. Eine Krankheit. Ein Arbeitsplatzverlust. Eine finanzielle Not. Ein psychischer Einbruch. Eine böse Nachbarschaft. Ein Autounfall. Ein Heimatverlust. Jedes Mal sind wir tief erschüttert, lassen uns in die Erschütterung fallen. Wir hadern, zweifeln, schimpfen, geben Ratschläge, ziehen uns ins Schneckenhaus zurück, drehen dem Leben den Rücken zu, bauen große Mauern um uns herum.

Und jetzt sitzen wir hier im Zazen – unerschütterlich. Egal, ob der Fuß einschläft, das Herz pocht, der Rücken schmerzt, das Knie steif ist, die Tränen vor Schmerzen kommen, das Leid zu Tränen rührt, die Wut hochsteigt oder die Gedanken keine Ruhe geben wollen. Wir bleiben sitzen und bewegen uns nicht. Wir rühren uns nicht. Wir beobachten sozusagen das Schütteln, die Erschütterungen unseres Körpers und unseres Geistes aus einer ruhigen Grundhaltung. Egal, was an uns, in uns oder mit uns geschieht, unerschütterlich üben wir weiter. Gerade im Sesshin können wir dies üben.

Zen und Biodanza Oktober 2022

Mit dieser Übung ist es möglich, Lebenssituationen, die uns berühren, ebenfalls unerschütterlich zu begegnen. Dies ist keine Gefühlskälte, sondern dies ist ein „waches Herz, ein wacher Geist, ein wacher Körper“. Mit der Unerschütterlichkeit dieser Wachheit können wir das „Richtige“ sehen, tun und lebendig auferstehen lassen. Früher sagte man: In der Ruhe liegt die Kraft. Ein Sprichwort. Sehr wahr.

Unerschütterlich üben wir einfach weiter. Ein Jahr. Zwei Jahre. Drei Jahre. 10 Jahre. 20 Jahre. 50 Jahre. Auch wenn wir selbst meinen, es geschehe doch gar nichts, so geschieht doch mehr als für uns erfahrbar und sichtbar ist. Zell- und Atomstrukturen gleichen sich dem Unerschütterlich an, langsam sich befreiend von den von uns geschaffenen Strukturen, in denen wir uns so wohlfühlen und einigeln. Unerschütterlich verändern wir allmählich unsere Immunkraft und werden weniger krank, sind ausgeglichener, ruhiger, stärker in einer erschütterten Welt.

Im Üben der Unerschütterlichkeit liegt das Wunder des Ungewohnten. Egal, was da kommt, egal, wie fremd es ist, egal, wie weh es tut, egal, wie ungewohnt es ist, wir nehmen es unerschütterlich ganz nah zu uns. Falten es in uns hinein und mit dem nächsten Tun wieder aus. So entsteht eine Welt, die unerschütterlich und mutig ihren Weg in eine friedliche Welt geht. Es ist unsere Unerschütterlichkeit, die wir im Zazen üben, die der Welt diese mutige Unerschütterlichkeit schenkt. Das ist das Tun eines Menschen, eines Wesens, das Bodhisattva genannt wird. Ein jeder/eine jede von uns ist dies bereits. Nur ab und zu ist unser Hadern, unser Groll so groß, dass wir übersehen, dass der einzige Weg zum Frieden, sowohl unseres Eigenen als den der Anderen der Weg durch und mit der Unerschütterlichkeit ist.

Ich wünsche uns allen den Mut der Unerschütterlichkeit, der uns verbindet mit der Unerschütterlichkeit der Erde, die immer wieder gutmütig zu uns schaut und sang- und klaglos unerschütterlich jedes Dilemma gerade bügelt.

Auf unseren Mut. Ich freue mich über jeden/jede, der/die sich dem Mut der Unerschütterlichkeit stellt für eine gute Welt.

Gassho

Ellen Daoren (Die, die den Weg geht.)

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