Sonntags-Blog „Lebendiges Leben und Totes Leben – ein Widerspruch?“, 29. Mai 2022
Liebe ZenhoflerInnen,
manchmal beutelt uns das Leben und wir fragen uns: Warum ich? Manchmal trifft uns der Tod eines uns nahestehenden Menschen und wir fragen uns: Warum dieser Mensch jetzt? Er/Sie hätte doch noch…. Manchmal begegnet uns das unbegrenzte Glück und wir fürchten uns vor dem Ende und fragen uns: Warum kann es so nicht bleiben?
Was tun wir, wenn wir Warum fragen?
Die Macht der Gewohnheit
Bei all diesen Fragen tun wir etwas. Wir setzen unsere Wunschliste an die erste Stelle und möchten es immer anders haben als es gerade ist. Und wir tun noch mehr. Wir übersehen, dass vielleicht gerade in diesem Augenblick das Leben eine Überraschung für uns parat hat. Eine Überraschung, die vielleicht die Lösung aller Probleme ist und wir sehen sie nicht, weil wir dem „Gewohnten“ nachschauen.
Wir wollen doch einfach nur ein „normales“ Leben führen. Wir wollen doch einfach nur, dass der uns nahstehende Mensch friedlich und ohne Krankheit stirbt, ohne Gewalt und Leiden. Wir wollen doch einfach nur diesen beseligenden Augenblick weiter genießen dürfen. Ist das nicht berechtigt bei all dem Tun und Arbeiten in unserem Leben?
Das Sandokai
Shunryu Suzuki erläutert das Sandokai und schreibt, dass die Sinne und ihre Objekte eng miteinander verbunden sind, aber gleichzeitig voneinander unabhängig. Denn trotz aller Verbundenheit haben sie alle ihren eigenen Ort. Die Sinne? Die Objekte? Die Subjekte? Der Baum? Die Tasse? Das Riechen? Der Schmerz? Das lebendige und das tote Leben? Alles gleichzeitig voneinander unabhängig und dennoch eng verbunden?
Er führt aus, dass wir normalerweise an den Dingen haften bleiben. Wir wollen es so und nicht so. Wir wollen es so nicht, aber so. Das heißt, wir machen uns unsere eigenen Maßstäbe, an denen wir unser Leben, Tun und Sein anlegen. Ist das irgendwie verkehrt?
Shunryu sagt, dass es dann ein Problem gibt, das wir nicht mehr auflösen können. Wir sind immer irgendwie unzufrieden, unglücklich und fühlen uns bedroht und reagieren mit Ärger, Zorn, Wut, Verzweiflung, Rückzug und und … die menschlichen Verhaltensweisen sind hier so vielfältig wie wir Menschen es sind.
Shunryu sagt jedoch ganz klar, dass ist nicht der Zen-Weg. Dieser bleibt nicht im Wollen-wollen hängen, sondern er öffnet sich für alle Perspektiven, sowohl für die Großen wie für die Kleinen, auch die Größten, auch die Kleinsten. Je mehr wir uns öffnen umso größer wird unsere Handlungs-Perspektive und somit unser Handlungs-spiel-raum. Je mehr wir wachsen umso mehr Blickrichtungen nehmen wir wahr. Je mehr wir üben offen und frei zu sein je mehr Standpunkte lernen wir kennen. Das sind die 10 Richtungen oder die leuchtende Perle.
Plötzlich ist die Welt nicht mehr festgefahren, sondern sie ist groß, weit und offen. Plötzlich sehen wir die Möglichkeiten und erfahren unsere Vielfalt. Je mehr wir das Wollen-wollen einfach loslassen, umso mehr Aspekte unseres Lebendigen Lebens erfahren wir. Ja, und dazu gehört auch die Erfahrung und der Aspekt eines toten Lebens.
In der Regel machen wir Menschen diese Erfahrung nur einmal, aber es gibt besondere Umstände, die es tatsächlich gelingen lassen, dass lebendige Menschen das tote Leben erfahren. Dies sind nicht Nahtod-Erfahrungen. Das ist ein eigenes Thema. Nein, wir können, wenn wir Zazen sitzen und ganz still und ganz ruhig sind, nur dem Atem zuschauen, wie er kommt und geht, erfahren, was ein lebendiges und ein totes Leben ist.
Der Atem kommt – lebendiges Leben. Der Atem geht – totes Leben. Der Atem verbindet sich und beides geht Hand in Hand. Wo beginnt nun das lebendige und wo beginnt das tote Leben? Wenn wir ganz genau hinschauen, gibt es keine Grenze. Wir sind Augenblick für Augenblick auf beiden Seiten.
Und genau das sagt Shunryu, wenn er von der Einheit von Innen und Außen, von Subjektivem und Objektivem spricht. Da ist nirgends eine Grenze. Die einzige Grenze, die existiert, setzen wir mit unserem Verstand. Dieser Verstand sagt: Du und Das. Dort und Hier. Ich und Du. Doch in Wirklichkeit, wenn wir wirklich erforschen, wo beginnt Du und wo beginnt Ich und wo endet Du und wo endet Ich, stellen wir fest, dass wir es nicht wissen.
Quantenphysikalisch ist das sogar logisch einsehbar. Gehen wir auf die klitzekleinste Ebene von Du und Ich, wo sollte dann eine Grenze sein?
Während wir Sitzen können wir lernen, dass diese Grenze nur in unseren Köpfen existiert, aber nicht, in dem, was sich da gerade an, mit und durch unseren Körper bewegt. Wir können bei den vielen Verbeugungen lerne, dass immer wieder alles von vorne anfängt. Verbeugen. Alles versinkt. Aufrichten. Alles steht auf. Doch, wie?
Lassen wir das offen, sehen wir mehr. Wir sehen vielleicht, dass unser Gegenüber sich noch die Nase putzt. Wir nehmen vielleicht im Augenwinkel wahr, dass unser Nachbar noch am Boden kniet und die Matte reinigt. Wir entdecken vielleicht etwas, was uns bis dahin noch nie aufgefallen ist. Das ist das Heben der eigenen Grenzen. Das ist das Wachsen. Und in Wach-sen steckt wach-sein.
Lasst uns gemeinsam wach sein und wachsen. Für uns und für alle!
Ich danke Euch sehr.
Eine gute Woche uns allen. Möge der menschliche Geist sich in Frieden miteinander verbinden.
Gassho Ellen