Sonntags-Blog „Vergessen“, 20.November 2022
Liebe ZenhoflerInnen,
nun zeigt sich der November von seiner novembrigen Seite. Erst war ihm noch zu warm. Jetzt ist ihm sehr kalt geworden und somit auch uns. Ich hoffe, dass ab und zu ein Sonnenstrahl uns erwärmt und erleuchtet. Und haben wir keinen Sonnenstrahl, dann nehmen wir die Kerze und entzünden ihr Feuer nicht nur im Außen, sondern auch in unserem Inneren.
Irgendwie scheint „vergessen“ für mich zurzeit ein Thema zu sein. Ich höre mir zu, wie ich Manfred Geschichten der Vergangenheit in der Familie erzähle. Es ist kein Gefühl von Traurigkeit dabei, sondern eher so ein „das ist auch noch hier“. Wir Menschen sind Gebilde wie ein Stein oder ein Grashalm. Jede Geschichte, die uns gestaltete und die wir gestalten, macht uns ein Stück mehr zu der Form, in der wir leben. Lernen wir diese Geschichten als Gebilde und Formen kennen, die uns formen und wir wiederum daraus andere Geschichten und Formen bilden, so erfahren wir wie die Welt entsteht.
Am Tag der offenen Tür hörte ich mich oft sagen: Sie lernen die Vokabeln ihres Körpers und Geistes kennen. Und wenn sie die Vokabeln lernen, kommen die Sätze. Sätze, die zeigen, wie Körper und Geist miteinander schwingen.
Aus unserer eigenen Erfahrung mit Sprachen lernen, wissen wir, wie schnell wir Vokabeln wieder vergessen. Es gibt sogar Vokabeln, die irgendwie gar nicht in unseren Kopf wollen und es gibt andere, die sind sofort gelernt. Und nur, wenn wir die neue Sprache anwenden, bilden sich Netzwerke von Sätzen, die uns dann befähigen ein Gespräch zu führen, eine Geschichte z.B. aus der Kindheit zu erzählen oder einen Bericht zu schreiben.
Zazen ist genau So! In jeder Minute Zazen-Praxis lernen wir die Vokabeln unseres Körpers und Geistes aufzufrischen, Neue zu lernen und die ersten kleinen Sätze zu bilden. Bis wir das gemeinsame gleichzeitige Tun von Körper und Geist als die eine Geschichte erfahren, vergeht chronologische Zeit, Herzenszeit und Körper-Geist-Zeit. Frischen wir die Sprache nicht immer wieder auf, gerät sie in Vergessenheit. In dieser Vergessenheit liegen die vielen nicht bemerkten Möglichkeiten, die viel-leicht genau die Möglichkeiten sind, die uns in einer Krise, einer schwierigen Lage, in einer besonderen nach Lösung suchenden Zeit, einen Raum öffnen können. Diese Vergessenheit kann zu Krankheiten führen, die gar nicht entstehen würden, wenn wir sie rechtzeitig bemerken oder sogar beim frühzeitigen Bemerken durch das Anwenden einer gelernten Vokabel umwandeln können.
Mitten in der Vergessenheit ruht ein Paradoxon. Auch dies kennen wir alle. In dem Moment, wo wir uns überhaupt nicht an die Vokabel erinnern können, und wir hergehen und sagen Ok, dann jetzt nicht und wir vergessen unser Wollen wollen, dann steht plötzlich das Gesuchte vor uns.
Genau dieses Paradoxon ist die Zazen-Praxis. In dem Moment, wo wir alles vergessen, ist alles da. Wenn ich zu Beginn unserer Meditation sage: Vergesst, wo ihr hergekommen seid und wo ihr hingeht, dann ist genau dieses Vergessen gemeint. Ein Vergessen, des tatsächlichen Ortes, wo wir hergekommen sind und erneut hingehen, aber auch vergessen, den Ort, an dem wir jetzt gerade sind. Dieser Atemzug ist vorbei, vergessen. Der Nächste ebenso. Dieser Schmerz ist vorbei, vergessen. Der Nächste auch. Dieser Drang im Geist: Das halte ich nicht mehr aus, vergessen. Den einen Moment erleben, dass aus dem Nichts Alles auftaucht.
Das ist reines Zazen. Immer wieder diesem paradoxen Vergessen den Vortritt lassen, denn dann erfahren wir genau Das, was wir schon immer wollten. Den ewigen Frieden. Das ewige freundliche Herz. Die ewige Freude.
Wir haben bald die Möglichkeit im Rohatsu-Sesshin diesem paradoxen Vergessen einen großen Besuch abzustatten. Dieser Raum bietet die Möglichkeit alte vergessene Vokabeln aufzufrischen, Neue zu erlernen und einzuüben und mit neuen anderen Satzmustern ins weitere lebendige Leben zu starten.
Ich freue mich über jeden, der sich diese Zeit schenkt, denn es ist eines der größten Geschenke, das wir uns selber schenken können. Ein echtes Weihnachtsgeschenk. Eine Geburt eines Lebens.
Ein mit allem verbundenes Gassho
Ellen (Daoren, Die, die den Weg geht.)
JA – Ich freue mich!
Ein groooooßes-herzliches DANKE und ein tiefes Gassho für die Worte und Deinem Tun!
Das Ganze – ein Geschenk – Ja – das ist es!
Marco