Herztöne

Sonntags-Blog „Herztöne“, 3. April 2022

Auf meiner heutigen kleinen Wanderung durch den verschneiten sonnigen Vogelsberg in Herbstein begegnete mir zuerst das Bildstöckl Vierzehn Heiligen.

Ja, richtig, genauso wie die Kirche Vierzehn Heiligen. Und dann sah ich plötzlich diesen wunderschönen Baum, der weit draußen auf dem Feld sich erhob und mit diesem Bildstöckl auf einer Linie lag. Mittendrin zwischen diesen Beiden erhoben sich die Herztöne. Ein kleiner Zaun zeigte wie beim EKG die Herztöne.

Was sind eigentlich Herztöne? Wir hören unser Herz in der Regel nicht. Wenn wir ganz gut sind, dann fühlen wir es. Doch, nicht einmal dafür nehmen wir uns die Zeit. Das Herz hören, fühlen, bemerken, seinen Geschmack und seinen Geruch kennen lernen, wie sollte das möglich sein?

Als ich noch Kinderkrankenschwester war und auf der Frühgeborenen-Intensiv-Station arbeitete, hörte ich durch die Monitore oft den Herzschlag eines Kindes, musste ihn sogar im Ohr haben, um Ungewöhnlichkeiten sofort zu bemerken. Wenn ich abends nach Hause ging, hörte ich diesen Herzton oft in mir und hätte ihn gerne einmal nicht gehört. Besonders schlimm war dies während meiner Examenswache. Ich betreute damals einen sechs Monate alten Säugling, der eine Hirnhautentzündung hatte, die in meinem Examensjahr 1981 sehr stark unter Kindern verbreitet war. Die Examenswache lief damals über drei Tage. Jeweils jede Schicht musste ich einmal durchlaufen haben. Auf diese Weise ist der Herzton des Kindes permanent in meinem Ohr gewesen. Beim kurzen Schlaf oder Essen überall hörte ich den Herzschlag des Kindes. Als es nicht mehr schlug das Herz, weil das Kind an den Folgen der Hirnhautentzündung verstarb, fehlte er mir plötzlich.

Heute, wenn ich Zazen sitze und es ganz still wird, dann sehe ich mein Herz schlagen, fühle seine Bewegung, taste mich möglichst nah ran, lasse zu, dass es überall ist. Genau das ist das Geheimnis der Herztöne. Sie sind überall.

Wenn wir spazieren gehen und ganz still stehen bleiben, können wir unseren eigenen Herzton hören lernen und den Herzton der Umgebung. Manchmal ist er laut, manchmal ist er ganz leise. In Kriegsgebieten wie die Ukraine, Afghanistan, Kongo sind die Herztöne laut. Sie schreien uns förmlich entgegen: Hört uns. Seht uns. Fühlt uns. Wir sind keine anderen Herztöne als die Euren. Es ist ein Herzton, der alles begleitet. Ein Herzton, der so ist wie der Unsrige. Kein Unterschied.

Das Erste, was in unserer Embryo-Zeit beginnt zu tönen, ist unser Herz. Übrigens auch bei den Tieren, ist es das Erste. Atmen tun wir erst viel später. Auch ist das Gewebe des Herzens das einzige Gewebe in unserem Körper, das sich nicht erneuert. Das Herz-Gewebe ist von Beginn unseres Seins bis zu unserem Sterben dasselbe. Daher ist es das klügste Organ und Gewebe, das wir tragen.

In der Zazen-Meditation können wir es erfahren lernen, wie es denkt, fühlt, bemerkt und agiert. Wir können ihm zusehen lernen. Wenn wir unser eigenes Herz erfahren und seine Stimme, seine Töne hören lernen, dann hören wir auch andere Herzen leichter. Sie sind uns nicht mehr so fern. Sie kommen uns dann näher. Wir können erfahren, dass dieses „andere Herz“ so ist wie Unseres. Es tönt. Es singt. Es klagt. Es tanzt. Es freut sich. Es weint. Jede Bewegung des Herzens hat seinen eigenen Ton. Herztöne.

Lasst sie uns wiederentdecken. Beim Gang durch die Natur. Beim Stehen unter Menschen. Beim Denken. Beim Tun. Herztöne. Lasst uns zuhören üben, denn sie sind das Schönste auf der Welt. Herztöne.

Zu Beginn machen sie uns manchmal ein wenig Angst, denn, obwohl sie uns so nah sind, sind sie Unbekannte. Würden wir schon von Kindesbeinen an, die Herztöne hören lernen wie die Wörter der Dinge, dann wären wir wahrscheinlich nicht so ängstlich berührt von ihnen. Wir würden sie kennen, vielleicht sogar benennen können. Der persische Arzt Avicenna, der den Kanon der Medizin geschrieben hat, beschreibt zu jeder, ihm damals bekannten Krankheit den genauen Herzschlag. Das sollte ihm heute einmal ein Arzt nachmachen können. Das setzt viel Übung voraus. Das setzt Erfahrung mit den Herztönen voraus.

Herztöne hören nicht nur in uns, sondern überall. Die Herztöne eines Hauses, eines Baumes, einer Quelle, eines Regenwurmes, einer Tulpe setzt voraus, dass wir unseren eigenen Herzton sehr gut kennen. Im Zazen und wahrlich im Sesshin können wir Herztöne erfahren lernen. Warme und kalte. Dunkle und Helle. Liebevolle und Hässliche. Lassen wir uns auf alle Herztöne ein, erfahren wir Welt, verstehen Weltgeschehen und gehen in die Welt mit einem offeneren Herzen, denn wir erfuhren seine Herz-Ton-Welten.

Lasst uns gemeinsam die Herz-Ton-Welt von uns selbst entdecken, denn sie öffnet die Tür für alle Herz-Töne der Welt.

Auf das Hören der Herztöne. Jetzt. Hier. Überall.

Das Herz eines Kampffisches schlägt nach 30 Stunden. Es tönt bereits laut in die Welt. Diese beigelegte Dokumentation ist wirklich sehenswert. Einen guten Start mit einem guten Herzen in die Woche.

Gassho Ellen

3 Kommentare

  1. Liebe Ellen,

    Herz-lichen Dank für diese wunderbaren Zeilen. Sie berühren mich gerade heute sehr, hatte ich doch in der vergangenen Nacht viel Kontakt mit einem Herzen.
    Auch in meiner Arbeit schaue ich immer wieder nach dem Herzen des Menschen, der da vor mir liegt. Es gibt helle und weite Herzen, aber auch dunkle und enge, manche schwer. Und doch ist es immer unser aller Herz, das uns ganz individuell die vielen Aspekte zeigt. Manchmal legt sich ein dunkler Schatten über das Herz, den wir selber rufen. Es sind die alten Geschichten, die nicht unsere sind. Erstaunlich, welche Kraft in diesen unseren Herzen steckt. Was diese Herzen alles tragen können. Freud und Leid, Liebe und Haß. Die größte Weite und die kompakteste Enge. Im Gegensatz zur Lunge, die uns das Atmen erschwert, wenn sie eng wird, schlägt das Herz ununterbrochen und tut seinen Dienst. Ein Zeichen unendlicher göttlicher Liebe.

    Herzlichen Dank
    Manfred

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