Über das wahre Selbst

SonntagsBlog „Über das wahre Selbst“, 2. November 2024

Liebe ZenhoflerInnen,

der November ist mit Nebel eingeläutet und ich denke, dass wir alle noch ein wenig hoffen, dass uns das Herbstwetter noch einmal sonnige bunte Farben schenkt. Der Wald ist in diesem Jahr noch zögerlich mit dem Abwerfen der Blätter und so könnte wir noch eine Zeitlang die Vielfalt der Buntheit anschauen.

Welche Welt sehen wir?

Gestern war der Tag der offenen Tür im Zenhof. Viele Menschen interessierten sich für den Zenhof. Es war schön dieses Interesse zu sehen. Ein großes Danke an die vielen helfenden Hände.

Helfende Hände

Wie ist es möglich die innere Stimme des Lebens zu hören?

Bei einem Gespräch am Nachmittag kam die Frage auf, wie wir denn diese innere Stimme, die irgendwie auf unsere Fragen immer die Antwort des tiefen Lebens kennt, wie wir sie hören können?

Dann las ich heute Morgen wieder Joko Beck, die große Zenmeisterin. Und auch bei ihr ging es um das „wahre Selbst“ oder wie sie es nannte das „unendliche Energiepotzenzial“.

Und auch Shunryu Suzuki Roshi, den ich heute Morgen aufschlug, erzählte von dieser inneren Stimme, die er japanisch „ri“ nennt. Was ist diese Stimme, die wir lernen können zu hören? Woher wissen wir, dass sie uns nicht trügt? Was können wir tun, sie hören zu lernen, vielleicht sogar sehen zu lernen?

Wenn wir zu einem Baum gehen, ihn fragen, ob wir uns anlehnen dürfen und wir hören ein Ja, dann setzen wir uns zu ihm. Manchmal sagt ein Baum auch, nein.

Welcher Baum spricht wirklich?

Wie können wir erfahren, was jetzt spricht?

Wir könnten sagen, dass es doch ganz einfach ist. Wir berühren den Baum und setzen uns hin. Er ist doch ein Baum. Doch genau das macht den feinen Unterschied zwischen dem, der seine eigenen Strukturen hintenanstellen kann und dem, dem gar nicht auffällt, dass er sich in seiner eigenen begrenzt aufgefassten Struktur bewegt. Wie können wir bemerken, in welcher Struktur wir uns gerade bewegen?

Ihr kennt meine Antwort und bemerkenswerter Weise ist diese Antwort auch die Antwort von Shunryu Suzuki Roshi und Joko Beck und noch vielen anderen weisen Männer und Frauen.

Huang Po, einer der ältesten Weisen sagt:

„‚Dieser Geist ist kein Geist der begrifflichen Gedanken, er hat sich von der Form völlig losgelöst. So besteht kein Unterschied zwischen Buddha und den fühlenden Wesen. Wenn man sich nur von dem begrifflichen Denken befreien kann, so hat man alles erlangt. Wenn ihr Schüler des Weges euch nicht in einem Augenblick vom begrifflichen Denken befreit, werdet ihre es nie erlangen, selbst wenn ihr Jahrhundert um Jahrhundert danach strebt.‘“ (Beck 2011, S. 167)

Was ist eine Struktur von uns?

Wenn ich von Struktur spreche, dann ist dies, eines unserer gewohnten Handlungsmuster und Spielräume, die wir uns aufgebaut haben. Diese sehen zu lernen, ist die erste Aufgabe. Wenn ich sie sehen kann, kann ich mich entscheiden mit einem dafür oder dagegen. Das ist der nächste Schritt. Und dann kommt der weitere nächste Schritt, dass ich nicht mehr entscheiden muss, sondern die Dinge entstehen lasse und sie sehe und ihnen zuschaue, eben ohne eine eigene Struktur darüber stülpen zu wollen. Das ist die Stelle, wo die meisten Übenden Schmerzen bekommen, denn jetzt beginnt die Auflösung, dessen, was wir das eigene Selbst, unser Ich nennen. Diese Phase ist schmerzhaft. Aber bleiben wir dem Üben treu, hören wir nicht auf, dann entsteht die Befreiung von diesen gewohnten Strukturen und das wirkliche wahre Selbst taucht auf.

Seid euch im Klaren darüber!

An die Stelle der gewohnten Strukturen setzen wir Neue. Doch diese neuen Strukturen sind erst einmal ungewohnt und passen sich dann an unser verändertes Leben an und umgekehrt. Hier begegnet uns der Anfängergeist. Immer wieder offen zu bleiben, für das, was da wirklich ist. Die Entdeckung einer neuen Struktur, die auch noch zu mir gehört, zu mir passt, die ich bin. Wie ihr wisst, ist Oryoki ein Meister darin.

Abertausende von Strukturen in der Veränderung!

Die friedliche stille Freiheit

Und gelingt uns diese Akzeptanz der permanenten Veränderung, das Annehmen dessen, was da wirklich ist, spüren wir eine Freiheit, die Frieden genannt wird. Shunryu beschreibt dies so: „Wenn unser Verstehen, ri, die Wahrheit erreicht, so ist damit etwas gemeint, das sich nicht in Worte fassen läßt. Dieses ri ist nicht die Wahrheit, die wir gewöhnlich meinen.“ (Suzuki 1998, S. 110)

Sind wir in diesem Raum, dem offenen friedlichen Nicht-Wissen angekommen,  sind wir ganz da. Genau hier! Genau jetzt!

Das, was da ist. Es fallen die Unterscheidungen, denn wir sind „das da“. Nicht einmal ein einziger Begriff, ein einziges Wort, ein einziger Gedanke, eine einzige Handlung quetscht sich dazwischen. Und das ist Zazen (alles sitzt) in seiner tiefsten und reinsten Form.

Und das wünsche ich uns allen. Im Sesshin haben wir alle die Möglichkeit, unsere Strukturen zu beobachten, zuzuschauen wie sie fallen und neue auferstehen, um auch diese wieder fallen zu sehen. Wir schauen dem Wechselspiel der Veränderung zu und lernen es vielleicht im Sesshin sogar lieben. Gehen wir dann nach Hause in unseren Alltag nehmen wir diese Neuigkeit in uns mit und werden zu Zuschauern des Wechselspiels der Veränderung. Und je mehr wir Zuschauer sind, je mehr werden wir zu dem, was wir sehen.

Denn langsam hebt sich der Vorhang und die Unterscheidung zwischen dem Zuschauer und dem, was wir anschauen, wird geringer und geringer, bis wir dieses Eine ohne Unterschied sind. Kein Dazwischen. Kein Wort. Kein Gedanke. Keine Regung mehr. Absolute stille Friedlichkeit.

Dies wünsche ich uns allen.

Herzlich Ellen Daoren

Literaturverzeichnis

Beck, Charlotte Joko (2011): Zen im Alltag. Vollst. Taschenbuchausg., 10. Aufl. München: Goldmann (Goldmann, 21961).

Suzuki, Shunryu (1998): Leidender Buddha – glücklicher Buddha. Zen-Unterweisungen zum Sandokai. Berlin: Theseus-Verl.

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