SonntagsBlog „Sich erinnern an…“, 30. März 2025
Liebe ZenhoflerInnen,
in den letzten Tagen sind mir so viele Themen begegnet, dass ich gar nicht so recht wusste, welches ich wählen sollte, denn alle sind sehr bewegend.
Der Frühling ist im vollen Gang. Bei uns im Vorgarten schwärmen die Wildbienen im Sonnenschein. Die Frühlingsblüher nicken mit ihren bunten Köpfen und wir schauen zu.

Wie war der letzte Frühling? Wie viele Frühling-e haben wir schon gesehen? An wie viele erinnern wir uns? Und warum erinnern wir uns überhaupt und wenn wie tun wir das und welche Auswahl treffen wir dabei?
Wir erinnern uns, indem wir uns etwas ins Gedächtnis, in unsere Gedankenwelt zurückrufen, indem wir uns erneut darauf aufmerksam machen, indem wir es in unsere jetzige Gegenwart stellen.
Was ist der Sinn dieses unseres Tuns? Aus der Psychologie ist bekannt, dass eine Erinnerung niemals mit dem identisch ist, was wir damals, zu einem Punkt in der Vergangenheit erfahren und erlebt haben. Es findet immer eine Veränderung statt. Erstens, weil wir uns selbst verändert haben. Zweitens, weil eine Zeit dazwischenliegt, in der unser Geist mit anderen Dingen beschäftigt war. Drittens, weil wir nicht wissen, wie wir das erworbene Wissen oder das Erfahrene überhaupt abgelegt haben. Viertens und fünftens und so weiter. Das heißt, wenn ich heute hier von Erinnerung spreche, ist dies für uns alle ein seltsames Unterfangen, denn eigentlich wissen wir nichts über das Erinnern. Alles, was Psychologen, Soziologen, Biologen, Neurologen darüber erforschen, sind Randgebiete des Eigentlichen.

Und dennoch kann die Erinnerung in einem Jetzt zu einer Entscheidung führen. Sie kann uns hilfreich sein, einen Weg durch den Dschungel zu finden.
Woran erinnern wir uns, wenn wir Zazen sitzen? Woran erinnern wir uns, wenn wir unsere Gesellschaft betrachten? Woran erinnern wir uns, wenn wir mit der Familie in den Urlaub fahren? Woran erinnern wir uns, wenn wir an unsere Kindheit denken? Erinnerungen sind so bunt wie unser Leben selbst. Es sind abgespeicherte Erfahrungen und das macht sie so besonders.

Erfahrung
Denn eine Erfahrung steht für etwas Durchgemachtes, für etwas Erlittenes, für etwas Erlebtes, für etwas, das in uns eine Erkenntnis, eine Form von Wissen hinterlassen hat. Ein Erfahren ist ein Durchwandern und Erforschen, ohne dass wir immer genau wissen von was.
Beim Erleben eines Erfahren lassen wir uns einfach auf etwas ein, ohne wissen zu wollen. Es ist ein Aufmerken, ein Erkennen ohne Definition. Wir lassen die Namen beiseite und erst später nach der Erfahrung, wenn wir sie beschreiben wollen, geben wir ihr einen Namen.
Dann sagen wir: Erinnerst du dich, als du im Rohatsu-Sesshin warst, hast du diese Freiheit verspürt, da hast du dich so leicht gefühlt, da war plötzlich dieser Augenblick einer allumfassenden Liebe anwesend, da fühlte ich, was es heißt, Mitgefühl zu haben.

Die Würde der Erinnerung
Was ist das zu Würdigende an einer Erinnerung? Es ist genau das. Es ist das sich zurückholen, dass in unserem Körper und in unserem Geist etwas da ist, was genau so ist, wie dieses Erfahren, das nun Erinnerung heißt. Es kann uns helfen Krisensituationen zu meistern, indem wir uns diese Erfahrung in unser Gedächtnis zurückholen und damit für einen kurzen Moment die Kraft, die Freiheit, das Leichte, die Liebe wieder in uns spürbar machen.
Und genau darum geht es. Auch wenn eine Erinnerung schmerzhaft ist, so ist sie dennoch ein zurückholen eines Augenblicks, der uns jetzt genau in dem Moment, wo wir jetzt stehen, sehr hilfreich sein kann. Dieser Moment kann uns erinnern, dass wir jetzt dies nicht wiederholen, sondern eine andere Entscheidung fällen, egal, welchen Ausgang sie hat, aber der Schmerz von damals muss sich nicht wiederholen.
Das Erfahren in die Gegenwart hineinholen
Andererseits kann sich die Freiheit und Leichtigkeit jetzt wiederholen und eine Entscheidung und auch unsere jetzt Lebenssituation positiv beeinflussen. Wir holen das Gefühl, die Intuition, die Erfahrung in dieses Hier und Jetzt hinein, erinnern an leicht, frei und unbeschwert. Und genau dadurch stabilisieren wir dieses Erleben in uns und es steht uns hilfreich als Mittel in unserem Alltag zur Verfügung.

Erinnern
Daher lasst uns erinnern an unsere Highlights im Sesshin, mit Zazen, mit der Natur, mit der Erde, mit dem Himmel, mit der Liebe, mit der Freude, mit der Zuneigung, mit dem Zuhören, mit dem FreundIn, mit Menschen und mit uns selbst.
Die Zazen-Praxis ist ein Erinnern.
Ein Erinnern, dass diese Praxis viele Hundert Jahre alt ist und vielen Menschen in ihrem Leben beigestanden hat. Und dieses Kraft öffnen wir, wenn wir uns gemeinsam in den Zendo setzen und einfach beobachten und bemerken, was unser Geist und unser Körper tut. Erst ein Regelwerk (Atem zählen, Verbeugung machen, Kerze anzünden, den Platz richten…) ermöglicht es uns, befähigt uns dieses Be-merken und Be-achten erfahrbar zu machen. Und daraus kann erst ein Erinnern entstehen. Ohne Bemerken, ohne Beobachten kein Erinnern. Bemerken und Erinnern sind gegenseitige Bedingtheiten, die uns helfen können unseren Alltag mit erinnernder Freude, Leichtigkeit und Liebe zu füllen.
So wünsche ich uns weiterhin ein gutes Erinnern an Zazen, ein Erinnern an die tragende Gemeinschaft und an ein Selbst, das sich einfach nur wünscht, dass ihr es liebt.
Vollständig, ohne Wissen und Wollen.
Eine herzliches Gassho
Ellen Daoren
P.S. Diese beiden Zitate fand ich jetzt. Ich teile sie einfach mit euch.
„Die Trennung zwischen Schamane und Nicht-Schamane [ist] in der Erfahrung begründet und nicht das Ergebnis unterschiedlicher […] Wahrheitskriterien.“ (Stan Wilk 1985, S. 117)
„Wenn euer Erforschen und Erfahren nicht direkt im Jetzt stattfindet, könnt ihr euch selbst nicht erfahren, […] Ihr könnt dann auch nicht das andere [die Welt] erfahren, […]. Einerseits ist es unmöglich, euer [wahres] Selbst zu fischen, das von allein an die Oberfläche kommt, und andererseits ist es unmöglich, dass euer [wahres] Selbst an die Oberfläche kommt, bevor es gefischt wird.“ (Dōgen Zenji 2013, S. 240)
Literaturverzeichnis
Dōgen Zenji (2013): Shōbōgenzō. 4 Bände. Heidelberg-Leimen: Kristkeitz (Band III).
Liebe Ellen, so schön was du über Erinnerungen geschrieben hast und ich erinnere mich gerade noch sehr an letztes Wochenende bzw an den biodanza Nachmittag danke an euch alle und besonders an Christine 🙏es war ein richtig schöner Nachmittag und danke an die guten Salate und das essen. Für deine Augenop wünsche ich dir alles Gute. Zum Oster sesshin bin ich nicht da jedoch würde ich gerne beim vortrag am 9. Mai teilnehmen liebe Grüße Heike
Ein DANKE von ganzem Herzen ❤
Und einem tiefen Gassho
Marco 🙏
Vielen herzlichen Dank, liebe Ellen.
🙏🏻☺️