Nähe und Ferne

SonntagsBlog „Nähe und Ferne“, 12. Oktober 2025

Liebe ZenhoflerInnen,

noch vor kurzem waren Manfred und ich in der Ferne, in Spanien, 1800 km von hier. Vor kurzem war Lukas in Japan, 13000 km. Das ist die Ferne. Und als der Mensch in seiner Evolution den aufrechten Gang lernte, konnte er plötzlich in die Ferne schauen und sehen, welche Gefahren drohten, aber auch welche Nahrung noch möglich ist. Und so wurde uns im Laufe von Jahrmillionen die Ferne sehr vertraut. Bis dahin herrschte ein Klima der Nähe. Die Horden, die Völker lebten in festgestimmten Abständen in bestimmten Nähen, die zu Fuß erreichbar waren. Aus den Nomadenvölkern wurden Sesshafte durch die Bebauung von Land. Und plötzlich entstand eine besondere Nähe zum Land, aber auch eine Ferne, die hinter dem Land war.

Ein tausendjähriger Olivenbaum. Eine Ferne von tausend Jahren und doch jetzt hier ganz nah vor unseren Augen!

Die menschliche Nähe und Ferne

Übertragen wir diese Erfahrungen der gesamten Menschheitsgeschichte auf einen einzelnen Menschen, stellt sich die Frage: was ist seine/ihre Ferne und Nähe? Sicherlich ist dies unterschiedlich und individuell, aber gesamtperspektivisch betrachtet, eben in der Gesamtheit Mensch-zu-sein, was bedeutet da Ferne und Nähe? Ist die Nähe die Familie, die Arbeitswelt, die Umgebung, die Mit-uns-Lebenden? Ist die Ferne dann immer das Andere?  

Zazen und die Nähe

Nehmen wir die Erfahrung der Zazen-Meditation zur Hilfe. Was ist hier Nähe und was ist hier Ferne? Ganz nah sind wir uns, wenn es uns gelingt bei unserem Atem zu bleiben, wenn wir eben nicht weg gehen in eine Ferne von Gedankenwelten, sondern wirklich hier einfach sitzen und zuschauen wie der Atem kommt und geht.

Wir schauen zu wie ein Gedanke kommt und geht. Wir bemerken einen Schmerz und eingeschlafene Füße. Wir beobachten wie wir einen Schweißausbruch bekommen oder anfangen zu frieren. Wir sind ganz nah bei unserem Körper. Und rücken wir unserem Körper so nah auf die Pelle, dass er uns noch näherkommt, indem wir sozusagen in ihn hineinkriechen, so hineinkriechen, dass er uns mitnehmen kann auf die Atemreise, dann sind wir so nah bei uns wie wir bei uns sein können.

Hier ist ein Atem sichtbar, der zu hörbaren Tönen wird. Der Atem selbst ist dem Spieler ganz nah, der Ton geht hinaus in die Ferne.

Die Ferne

Wenn wir uns von unserem Geist angetrieben in ferne Länder abbiegen sehen, können wir diesen Wegen, Straßen, Autobahnen folgen und wir entfernen uns immer mehr von unserer Nähe. Der Abstand zu uns als die nächste Nähe wird immer größer und schließlich haben wir uns in der Ferne verloren. Wir wissen gar nicht mehr wie wir dahin gekommen sind. Die Gedanken tragen uns fort wie der Wind die Blätter. Der Alltag wird schwer und schwerer.

Doch entscheiden wir uns den Biegungen/Verbiegungen unseres Geistes nicht zu folgen, sondern ganz nah dem Nächsten zu bleiben, kann etwas entstehen, was in der Literatur heißt: Die Nähe in der Ferne und die Ferne in der Nähe. Der japanische Zen-Meister und Philosoph Hisamatus schreibt über die fünf Stände des Zen-Meister Tosan Ryokai: „Sie [sind] eigentlich nicht zu trennen.“ (Hisamatsu 1980, S. 42) und „Es ist ineins mit dem eigenen Selbst.“ (Hisamatsu 1980, S. 51)

Der alles umgreifende Raum von Nähe und Ferne

Es gibt einen Raum, der die Nähe und die Ferne vollständig umgreift und dies geschieht nicht irgendwo, irgendwann und irgendwie, sondern es geschieht tatsächlich immer nur genau hier an diesem einen Ort, an dem du gerade bist, was du bist. Dein eigener Körper. Deine eigener Geist, die Nähe und die Ferne in einem. Bist du tatsächlich genau dies, erfährst du genau dies. Du erfährst, dass du die Nähe und die Ferne bist. Daher sagt Shunryu immer, ihr fliegt zum Mond, das war damals gerade passiert und immer schaut ihr nach der Ferne, aber wenn du begriffen hast, dass du die Ferne bist, ist dies nicht mehr nötig.

Führt uns ein Fluss in die Ferne und auch in die Nähe?

Dies ist eine seltsame Vorstellung für uns, die wir doch, so viele Wünsche, Träume und Erwartungen haben. Ich habe zum Beispiel den Traum einmal in die New Yorker Metropolitan zu gehen und eine Oper zu hören oder mit einem Heißluftballon eine Fahrt zu machen. Doch, was tue ich da? Ich meine, dass das, was ich dann in der Ferne aufsuche, getrennt von mir wäre und dass ich das unbedingt kennenlernen muss, weil ich sonst keinerlei Erfahrung dazu habe. Doch stellt sich nicht die Frage, ob dies wirklich so ist? Und warum reicht uns unsere eigene Nähe und intime Vertrautheit nicht?

Intime Vertrautheit?

Das vollständige Greifen-Begreifen-Zugreifen-Durchgreifen

Eine Antwort kenne ich nicht. Ein jeder/jede von Euch ergreift sie für sich, aber was ich ergriffen habe, ist Zazen. Es ist für mich eine Haltung, die mir ermöglich, meine eigene Nähe und meine eigene Ferne zusammenzuführen, genau hier wo ich jetzt bin und damit erhalte ich eine unglaubliche Möglichkeit, nämlich mich selbst zu ergreifen, zu begreifen und durchzugreifen. Und das wiederum nehme ich mit in meine Welt, die mich umgibt und dadurch hebt sich die Trennung von allem stückchenweise immer mehr auf, bis wir zusammenfallen und das nennt der Buddhismus Erleuchtung. Nicht die Erleuchtung, sondern das vollständige BEGREIFEN von Nähe und Ferne in einem Augenblick.

Der Augenblick von Nähe und Ferne in einem Augenblick

Das wünsche ich uns allen eine wunderbare Nähe und Ferne in einem Augenblick in tiefer Angebundenheit an das eigene Selbst, das wir alle gemeinsam bilden. Ohne die Ferne keine Nähe und ohne Nähe keine Ferne. Nur gemeinsam ist dieser Augenblick des ganzen Umgreifens erlebbar. Daher ist eine Gemeinschaft so bemerkenswert bedeutsam. Und alle, die im Zendo schon ein Zen-Intensiv und Sesshin erfahren haben, wissen was diese bedeutsame Gemeinschaft leisten kann. Sie trägt uns durch jedes Chaos, jede Freude und jeden Augenblick, ohne dass etwas verlangt wird und ohne dass etwas Niederträchtiges hängen bleibt. Es ist einfach ein gemeinsamer Ort von Nähe und Ferne und die bestimmt ein jeder/jede von uns selbst.

Ein für uns alle gemeinsames Gassho

Ellen Daoren

Literaturverzeichnis

Hisamatsu, Shinichi (1980): Die fünf Stände von Zen-Meister Tosan Ryokai. Strukturanalyse des Erwachens. Pfullingen: Neske.

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