SonntagsBlog „In-sich-hineinfallen ist Aus-sich-herausfallen“, 27. Oktober 2024
Liebe ZenhoflerInnen,
der morgendliche Nebel der Novembertage löste sich zum Nachmittag in strahlenden Sonnenschein, welch ein Geschenk. Gleichzeitig zeigt uns dies einmal mehr, wie ein nebliger Tag ins Strahlen gehen kann, wenn wir hinschauen und spüren. Ein Dank an diese Herbsttage.

Heute Morgen hörten Manfred und ich wieder einmal Rainer Maria Rilke, Rilke-Project. Kann ich übrigens nur empfehlen. Mich haben diese Rilke-Projekte jahrelang begleitet. Und es gibt ein Gedicht von Rilke, in dem er sich vorstellt eine Fahne zu sein, die den Sturm schon naht.
Vorgefühl (Rainer Maria Rilke)
Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muß sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
die Türen schließen noch sanft, und in den Kaminen
ist Stille; die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.
Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein
in dem großen Sturm.

Ein Sesshin ist ein Sturm
Dies ist eine wunderbare Beschreibung von einem Sesshin. Wir fallen in uns hinein und damit total aus uns heraus. Wir fallen ohne Schranken mitten in den Sturm unseres Körpers und Geistes. Wir sehen den Sturm. Wir fühlen ihn. Wir lassen an uns rütteln bis wir nicht mehr wissen, wo der Kopf und die Füße sind. Wir fühlen Brüche und Falten in uns. Wir sehen wie der Geist Geschichten des Sturmes und seinen Folgen wälzt. Wir hören Stimmen um uns herum und tun Dinge in diesem Sturm. Doch ganz egal, welcher Sturm über und in uns und durch uns hindurchpustet, wir bleiben aufrecht in unserer Haltung, lassen uns nicht beirren, gehen weiter und lassen uns mitnehmen auf diese Reise ins Herz aller Dinge, ohne uns von uns selbst beirren zu lassen. Und stehen wir diese Reise durch, sind wir befreit, leer, daheim angekommen und spüren die Spur des ganzen großen lebendigen Lebens in uns. Dafür lohnt es sich, sagte einmal Shunryu Suzuki Roshi.

Die Fahne, was ist das?
Wenn die Fahne wieder zurückkehrt in die Stille des leisen Windes, den Sturm überwunden hat, lässt sie im Laufe der Jahre Stofffetzen dem Wind bis sie sich ganz mit ihm verbindet und verschwindet. Dann sind Fahne und Wind eins geworden, was sie schon immer waren und sind.
Im Sesshin, dem einfachen Sitzen in Shikantaza können wir unserer Fahne im Wind zuschauen und nach dem Sesshin aufstehen im ruhigen Wind eines neuen Tages. Dies wünsche ich uns allen.

Vom Nutzen
Wir werden heute immer wieder gefragt, wenn wir etwas tun sollen: Wozu nutzt das etwas? Wenn wir arbeiten gehen, wollen wir eine Arbeit haben, die uns ausfüllt und die unseren Lebensunterhalt sichert. Wenn wir einer sportlichen Betätigung nachgehen, wollen wir, dass wir unsere Gesundheit erhalten. Wenn wir in Urlaub fahren, wollen wir uns entspannen und genießen. Wenn wir ins Konzert gehen, Fernsehen schauen, wollen wir unterhalten werden. Und so reiht sich ein Wenn mit einem Wozu aneinander.
Ein Sesshin
In einem Sesshin gibt es das nicht. Das Einzige, was es in einem Sesshin gibt, ist das Jetzt. Jetzt sitze ich. Jetzt putze ich Zähne. Jetzt trinke ich Tee. Jetzt rühre ich im Topf. Und das Einzige, was es dabei zu erfahren gibt, sind wir selbst. Ob uns dies etwas bringt, weiß jeder nur für sich selbst. Keiner kennt den Anderen. Keiner empfindet wie jemand anderer. Daher kann ein jeder nur für sich entscheiden, tue ich es und gehe in dieses Jetzt meines Eigensten oder tue ich es nicht. Und die Einmaligkeit des Sesshin liegt darin, dieses Jetzt sichtbar zu machen, denn das große Regelwerk des Tagesablaufes macht dies möglich. Dieses Regelwerk ist wie ein großer Spiegel, in dem wir uns selbst und allem anderen zuschauen.

Das Jetzt
Ich wünsche uns allen, einmal die Erfahrung ein siebentägiges Sesshin zu machen, denn erst dann könnt ihr sagen, ob dies auf euch und euer Leben eine Auswirkung hat. Könnt ihr „wissen“, dass es euch gelungen ist, für eine kurze Zeit eures Lebens genau im Jetzt zu sein. Das Prinzip des Wuwei kennen zu lernen.
In diesem Sinne seid alle willkommen. Ellen Daoren
Shunryu Suzuki Roshi
„In den Vorträgen, die er während des Sesshin hielt, forderte Suzuki seine Schüler auf, nicht auf die Glocke zu warten, sondern einfach nur zu sitzen. […] Alle vernahmen jeden seiner Schritte laut und deutlich, und viele fieberten dem Gongschlag entgegen, der diese Periode beenden würde. Aber seine Schritte kehrten zum Ausgang zurück, und wirklich er ging hinaus! […] Die Schüler saßen und saßen und saßen. […] Grahame fürchtete, dass Suzuki sie vergessen haben könnte. Andere meinten, ihre Beine würden abfallen. […] Schließlich kam er wieder nach unten, raschelte noch einmal mit den Papieren, ließ sich auf sein Zafu nieder und, nach einem weiteren Moment, der allen wie eine Ewigkeit erschien, nahm der den Holzklöppel und schlug gegen den kleinen Bronzegong. Voller Erleichterung brachen wir alle in Lachen aus. Zweieinhalb Stunden waren vergangen.“ (Chadwick 2000, S. 220–222)
Literaturverzeichnis