Der Schmerz der Erlösung

SonntagsBlog „Der Schmerz der Erlösung“, 27. Juni 2025

Liebe ZenhoflerInnen,

an der Fensterscheibe rutschen gerade die ersehnten Regentropfen hinab. Sie erleben gerade ihr Leben an einer Fensterscheibe. Und wieder einmal befällt mich die Frage, woher der Regentropfen weiß, dass da eine Grenze ist? Warum segelt der Tropfen nicht ins Haus? Was macht unser Geist, dass er eine Grenze in Form einer Glasscheibe setzt? Sicherlich meint ihr jetzt, jetzt ist Ellen ver-rückt geworden. Sie sitzt in Schreibzeit und denkt zu viel, liest zu viel, schreibt zu viel, da hebt man schon mal ab und verliert die Realität aus den Augen? Aber, was ist Realität? Ist die Wirklichkeit wirklich das, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, denken?

Zen und Pizza
Was fühlen wir, wenn wir Teig kneten? Wo ist unser Geist? Wo ist unser Körper? Wirklich jetzt hier sein, was ist das?

Es gibt noch mehr als das

Shunryu Suzuki Roshi schreibt: „Es gibt noch mehr als das.“  Und Holger Kalweit ein Ethnologe schreibt: „‚Damit ein biologisches Leben möglich ist, muß der Geist als Ganzes durch das Reduktionsventil des Gehirns und Nervensystems hindurchfließen. Was am anderen Ende hervorkommt, ist ein solch spärliches Rinnsal von Bewußtsein, daß es uns gerade hilft, auf der Oberfläche des Planeten am Leben zu bleiben.‘“ (Kalweit 1987, S. 80)

Gibt es diese Kraft noch oder haben wir sie schon vernichtet?

Bewusstheit

Das heißt, wir begrenzen permanent unsere eigene Bewusstheit. Wir über-sehen immer wieder, dass das, was wir hier als unsere bewusste Welt für wahr-nehmen, nicht die ganze Welt ist, sondern nur ein winziger Ausschnitt.

Um unsere Bewusstheit zu heben, um sie zu erweitern, gibt es seit Jahrtausenden Zeremonien. Von einer Visionssuche über meditative Rückzugszeiten, Hungerkuren, Schweigezeiten bis hin zu psychedelischen Substanzen. Und wir sprechen hier nicht von fünf oder sieben Tagen, sondern von Wochen und Jahren. Können wir uns wirklich vorstellen, was diese Menschen durchlitten haben? Wofür fragt ihr? Die Frage unserer heutigen Gesellschaft. Tatsächlich für alle, denn viele dieser Menschen wurden anschließend als Heiler aufgesucht, als Weise, die einen Rat geben konnten, als Menschen, denen man sich mit den tiefsten eigenen Geheimnissen zuwenden konnte, weil sie wussten, worüber man sprach, denn sie kannten es. Es gab keinen Schmerz, den sie nicht erlebt hätten. Übrigens wie ein Buddha, ein Jesus, ein al-Hallādsch, ein Rumi, eine Elisabeth von Thüringen, eine Mutter Theresa. Wer glaubt, dass ihnen ihre Gaben in den Schoß fielen, irrt sich gewaltig!

Doch, was ist ihnen allen gemeinsam? Es gibt etwas, dass zur Bewusstseinserweiterung gehört und das ist Leiden. Das sind Schmerzen. Es geht nicht um Wollust, Wohlfühl-atmosphäre und Schmerzlosigkeit. Es geht nicht darum, keine körperlichen Beschwerden zu haben oder angenehm und positive Gefühle zu haben, wie dies heute für „normal“ gehalten wird.

„Zu-grunde gehen“

In einer ehrlichen und wirklichen Bewusstseinserweiterung nehme ich jede körperliche Beschwerlichkeit auf mich. Ich wehre mich nicht gegen den Schmerz, sondern ich nehme ihn hin, bis ich daran im wahrsten Sinne des Wortes „zu-grunde“ gehe. Und genau das ist wirkendes wirkliches Zazen. Ihr kehrt zum Grunde zurück. Egal, was der Geist und der Körper will, wie die beiden euch hin und her zerren, wie sie miteinander ringen und euch zum aufspringen und schreien bringen wollen, ihr schaut einfach nur zu. Ihr bleibt einfach sitzen. Ihr atmet einfach weiter. Und jeder von euch, der sieben oder fünf Tage Sesshin gesessen hat, weiß, wovon ich hier spreche. Ich praktiziere seit zwanzig Jahren und die Anzahl der Sesshins habe ich irgendwann aufgegeben zu zählen. Doch eines ist mir in Körper, Geist und Seele hineingeflossen. Wenn ich wirklich das Sprengen alter, von mir geschaffene Ketten durchstand, kam sie, die Erlösung. Immer. Und das ist dauerhafte Befreiung. Das ist das Entstehen von Liebe. Echter Liebe.

Es passiert dann das, wonach wir uns alle sehnen. Endlich Frieden. Endlich Freiheit. Endlich Ankommen. Endlich einfach Ruhe. Große Stille im eigenen Selbst.

Es gibt nichts geschenkt auf dieser Erdenwelt. Mit der Geburt beginnt der Schmerz. Wir müssen durch diesen engen Kanal, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen diesen schmerzhaften ersten Schrei von uns geben, sonst können wir nicht leben. Wir müssen die ersten Macken hinnehmen, wenn wir anfangen uns aufzurichten. Wir müssen lernen, denn sonst können wir an dieser Welt nicht partizipieren. Ja, wir müssen!

Ja, wir müssen wachsen, wir müssen Schmerzen erdulden, wir müssen glücklich sein!

So gerne vermeiden wir heute das Müssen. „Ich muss gar nicht“ heißt es heute häufig. Wir können. Wir dürfen. Wir erlauben uns. Wir tun es einfach. Doch, wenn wir uns auf den Augenblick konzentrieren, in dem wir gerade jetzt leben und wenn wir wirklich unserer Intuition vertrauen, haben wir keine Wahl. Wir müssen das tun, was wir tun. Jetzt.

Und das ist nicht immer wohlfühlen, sondern bedeutet oftmals Schmerzen ertragen, erdulden und hinnehmen. Und tun wir dies wirklich mit einem offenen Sein, einem Herzen, das unbegrenzt JA sagt und kein Nein kennt, dann gelingt uns das, was wir uns alle so ersehnen. Die wirklich unbegrenzte Einheit. Das wirkliche Sein in diesem Augenblick. Es gibt nichts Anderes. Nur Das.

Und üben wir dies in unserer Meditation, nicht nur einmal die Woche, sondern möglichst jeden Tag, wenn auch vielleicht nur kurz, 20-30 Minuten, dann stellt sich in unserem Körper-Geist-System etwas ein, das immer öfter Ja sagt, das immer weniger Nein sagt, bis hin zu dem Tag, wo wir feststellen, dass die Schmerzen des Seins mit all seinen Problemen des täglichen Lebens kleiner geworden sind und unsere Zufriedenheit mit dem täglichen Leben sich vergrößert hat.

Die Zufriedenheit im Regen in einem Kreis von Menschen zu sitzen, die einfach das sind, was sie gerade sind. Welch ein Geschenk!

Und schlussendlich kommt der letzte Tag unseres Lebens, der uns allen in die Wiege gelegt wurde und haben wir gelernt, den Schmerz des Abschied-nehmens durchzustehen, Abschied von unserem EGO, Abschied von seinen aufgebauten Fesseln in uns und das tut weh, das sage ich euch, dann gelingt uns auch der letzte Abschied friedlich, frei und gemeinsam mit allen.

Das wünsche ich uns allen.

Eine gute Zeit.

Gassho Ellen Daoren.

Literaturverzeichnis

Kalweit, Holger (1987): Urheiler, Medizinleute und Schamanen. Die Wiederkehr archischer Lebenstherapie. München: Kösel.

2 Kommentare

  1. Diesem Wunsch schließe ich mich von ganzem Herzen an!

    Ein tiefes Dankeschön für Deine immer so berührenden und voller Schönheit und Zuneigung gewählten Worte 😌

    In Gassho
    Marco 🙏

  2. Liebe Ellen,

    von Herzen Danke für Dein Teilen. Neu inspiriert und motiviert stelle ich mich diesem Tag und sage bewusst JA zu dem was kommen mag.

    Ganz herzliche Grüße,
    Andreas. 🙏🏻☺️

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